Dorfschreiberin Suhr 2017 | 2018
Der Raum vor meinem Fenster
Bevor das Haus, in dem ich wohne gebaut wurde, stand dort noch nie ein Haus. Zuletzt war dort ein Baumgarten. Ein schöner Ort, vor allem im Sommer, wenn die Bäume Laub trugen und unter und zwischen den Bäumen ein Fülle von grösseren und kleineren Aussenräumen erlebbar war.
Das Haus in dem ich wohne hat diesen Ort verändert. Aus jedem Fenster, an jeder Seite des Hauses sehe ich einen anderen Ausschnitt des grösseren Umraums, in dem nun das Haus steht. Auf der einen Seite ist der Raum bereits nach wenigen Metern begrenzt durch eine Mauer aus Beton. Diese erscheint im Winter in vielen Nuancen von Grau, überzogen von einem feinen Netz aus Ästen. Im Sommer ist sie grün und lebendig, im Herbst leuchtend rot. Der Raum wird von wenigen Menschen als Weg und Zugang genutzt. An heissen Tagen wird er zum kühlen Zimmer im Grünen. Auf der anderen Seite entsteht ein ganz anderer Eindruck von Raum. Dieses Aussenzimmer ist viel grösser, es reicht bis zur grossen Holzscheune, und durch die Durchfahrt hindurch reicht der Blick bis zu einer Hausfassade, etwa hundert Meter weiter. Zwischen meinem Fenster und der Holzfassade der alten Scheune gibt es aber noch andere Bereiche wie zum Beispiel den Kiesplatz, die Wiese, den langen gedeckten Platz, den Teerplatz unter dem alten Nussbaum, und hinter der Hecke das Strässchen. Es sind Räume die sich ergänzen und überlagern. Sie werden von verschiedenen Menschen verschieden genutzt. Rechtlich ist bei uns überall definiert, welche Fläche wem gehört, von wem sie genutzt werden darf. Unser Auge aber nimmt Räume wahr. Unser Blick reicht über die Grundstücksgrenze hinaus, unsere Räume reichen bis zum nächsten Haus oder bis zum ersten Jurahang, bis zum Wald, oder bis zur Lärmschutzwand.
Mit dem Errichten eines Gebäudes wird ein Stück Aussenraum zum Innenraum. Dieser Innenraum ist meist unterteilt in weitere, grössere und kleinere Räume. Die Dimensionen und Materialien des Gebäudes, innen wie aussen werden sorgfältig, minutiös geplant. Das Gebäude selbst verändert aber immer auch die Dimension und die Atmosphäre des Raumes darum herum, des Umraums. Es schafft neue Raumgrenzen und Orientierungspunkte. Während in ländlichen Gebieten der Raum oft weit ist und von Hügeln, Bäumen oder Hecken begrenzt wird, bewegen wir uns in dichter bebauten Gebieten durch ein System von kleineren und grösseren, engeren und weiteren, sich überlagernden Aussenräumen. Ein Teil dieser Aussenräume ist geplant, viele solcher Räume ergeben sich einfach. Sie verändern sich im Jahreslauf. Sie werden von Menschen begangen, befahren, belebt und benutzt, zu verschiedenen Zeiten anders. Von allen werden sie wahrgenommen und erlebt.
Bodenbilder
In der warmen Jahreszeit erfahre ich wieder wie es sich anfühlt, wenn ich draussen barfuss unterwegs bin. Wie ich den Kies mit den Füssen behutsam abtasten, und den Druck verteilen muss, wie die Wiese kühl und weich ist, und wie ich den heissen Asphalt möglichst wenig berühren will. Und ich nehme Altbekanntes wahr, wie den Geruch der aufgeheizten Strasse nach einem Gewitterregen oder den Duft einer frisch gemähten Wiese. Auch höre ich nachts, bei offenem Fenster, ob jemand zu Fuss oder mit dem Velo über den Kiesweg kommt.
Diese Sinneseindrücke haben alle mit der Beschaffenheit des Bodens zu tun. Verglichen mit anderen Elementen der gestalteten Umwelt wird der Boden ausser mit den Augen auch, oder vor allem, mit anderen Sinnen wahrgenommen. Als ich realisierte, dass ich den Blick selten bewusst auf den Boden richte - es wäre mit der Zeit auch nicht ganz ungefährlich - habe ich angefangen, den Boden genauer zu betrachten wenn ich in Suhr unterwegs bin.
Die Zunahme des Verkehrs und die damit verbundenen Anforderungen an die Bodenbeläge führt dazu, dass der Gestaltungsspielraum im öffentlichen Aussenraum immer kleiner wird. Eine nicht asphaltierte Strasse ist ein seltenes Bild.
Eine neu geteerte Strasse wirkt aufgeräumt, wie eine frisch gemähte Wiese. So wie die Wiese sich verändert, und wieder und wieder gemäht werden muss, so verändert sich auch die Oberfläche der Strasse. Klima, Verkehr, Reparaturen an darunter liegenden Leitungen, manchmal auch die Kraft des Wurzelwerks von unten führen dazu, dass der Belag immer wieder geflickt werden muss. So verändert sich die Oberfläche der Strassen und Wege mit den Flicken. Es entstehen Bodenbilder, die nicht gewollt sind und nicht geplant wurden. Geflickte Risse wirken am einen Ort wie fremde Schriftzeichen, an einem anderen Ort scheint ein Kopffüssler über die Strasse zu rennen.
Diese Zufallsbilder sind da, bis irgendwann der Belag ganz erneuert werden muss, und die Strasse wieder wirkt wie die frisch gemähte Wiese. Es können Zahlen, Streifen und Dreiecke darauf gemalt werden, und die Strasse ist wieder wie neu. So wie in der Wiese bald der Klee erscheint, machen sich im Asphalt die ersten Frostschäden bemerkbar, und es entstehen wieder neue Bilder.
In Gärten, Parks und auf Plätzen wird sichtbar, wie vielfältig der Boden gestaltet werden kann. Ohne Tafeln und Signalisationen ist meist klar, welche Fläche wofür genutzt werden kann und darf. Auf den Strassen scheinen die Nutzungen nicht so vielfältig.
Wie wäre es, wenn auf einer Strasse der Belag einmal spürbar wechseln würde?
Interessante Zufallsbilder wären auch dann noch genügend da.
Suhr am Wasser
Dort wo ich aufgewachsen bin, ist die Landschaft stark vom Wasser geprägt. Flüsse, Seen und Kanäle bilden viele Kilometer Ufer. Ufer, entlang derer man spazieren und fahren kann, wo man sitzen, spielen, wohnen und das Wasser erleben kann.
Auch Suhr ist geprägt von Wasserläufen: Suhre, Wyna und Stadtbach. Sie sind nicht immer sichtbar, öfters versteckt aber doch auf vielfältige Weise erlebbar. Auch wenn das Wasser an vielen Orten nicht so präsent erscheint, so sind es doch die Flüsse und Bäche, die Orte verbinden. Von oben betrachtet, und dazu müssen wir heute dank Google Maps kein Flugzeug mehr besteigen, ziehen sich Flüsse und Bäche mit ihren baumbestandenen Ufern als grüne Streifen durch die Landschaft. Die immerwährende Abwärtsbewegung des Wassers macht rauschend, plätschernd, gurgelnd oder dann lautlos erlebbar, wie die Beschaffenheit der Landschaft ist, ob das Gelände steil abfällt oder eher flach, ob das Fluss- oder Bachbett eng ist oder weiter.
Lange Zeit waren Flussläufe unberechenbar und der Aufenthalt am Ufer gefährlich, und vielerorts ist es immer noch so. Der Charakter der Wasserläufe ändert sich aber im Laufe der Zeit. So hat der Stadtbach seine Funktion als Wasserversorgungs- und Industriekanal längst verloren. Trinkwasser, Löschwasser und Energie kommen heute woanders her. Die Ufer und das Wasser werden zugänglicher. An warmen Tagen können die Füsse oder das Bier gekühlt werden, an Wintertagen das Eis vorsichtig betreten.
In der Schwirrenmatte, wo der Bach seit jeher höher liegt als das umliegende Land, und seit einigen Jahren verzweigt ist und Inseln bildet, entdecke ich ein einfaches Gerüstbrett, das vom Ufer zur Insel führt. Das Brett lag wohl nicht immer dort. Kinder haben auf einfache Art eine Brücke vom Ufer zur Insel gebaut, und damit neue Plätze erschlossen. Es gefällt mir, dass dort, wo das Wasser zugänglich und ungefährlich ist, ein Ort entstanden ist, der gestaltbar, veränderbar und vielfältig nutzbar ist.
An einem anderen Ort, neben dem Coop, hat der Stadtbach einen ganz anderen Charakter. Das Bachbett liegt hier viel tiefer und wird von der Coop-Seite her kaum wahrgenommen. Der schönste Platz ist hier dem Abfallcontainer vorbehalten. Manchmal stelle ich mir vor, anstelle des Containers sitzen Menschen auf einer Terrasse über dem Bach. Das kühle Wasser fliesst unten durch. An einzelnen Stellen führen Stufen zum Wasser hinunter, ein einfacher Holzsteg erschliesst das gegenüberliegende Ufer.
Zwei Beispiele, zwei verschiedene Orte am gleichen Wasserlauf. Sie zeigen, dass Orte und Situationen die sich verändern, immer auch Chancen für Neues bieten.
Der Stadtbach, dieses einzigartige Bauwerk, das seinen Ursprung im 13. Jh. hat, könnte durchgehend und vielfältig erlebbar werden, ohne dass seine ursprüngliche Form verloren ginge.
In verschiedenem Licht
Von meinem Arbeitstisch aus schaue ich an eine Glasfront in Richtung Süd-Ost. An einem sonnigen Tag scheint die Sonne in der ersten Tageshälfte in den Raum, am Nachmittag liegt die Fassade im Schatten. Am Tag weitet sich der Raum über die Fensteröffnungen aus. Ich bekomme die Tageszeit mit, und das Wetter, Lieferwagen, die zu- und wegfahren, Menschen die kommen und gehen. Ich muss dazu nicht ständig hinausschauen. Abends, wenn es draussen dunkel ist wirkt der Raum völlig anders. Die Öffnungen erscheinen als dunkle, schwarze Flächen. Ich sehe nicht, wer oder was sich draussen bewegt, könnte mich beobachtet fühlen. Der Raum muss von künstlichem Licht ausgeleuchtet werden.
Das natürliche Licht, das die Innen- und Aussenräume überhaupt sichtbar macht, hat einen direkten Einfluss auf die Atmosphäre im Raum. Wenn beispielsweise die Sonne blendet oder den Raum zu stark aufheizt, müssen wir das direkte Sonnenlicht abschirmen. Ob dies mittels einer belaubten Pergola, eines leichten weissen Vorhanges oder einer Rafflamellenstore geschieht, macht einen Unterschied in der Raumstimmung. Auch die Art wie Farben und Strukturen der Oberflächen das Licht reflektieren wirkt auf die Stimmung im Innen- oder Aussenraum.
Wir kennen Baumaterialien wie Holz, Backstein, Beton, Stahl oder Glas. Wir brauchen sie, um Bauwerke zu konstruieren. Das eigentliche Gestaltungsmittel aber ist das Licht. Das Licht, das sich nicht nur im Tages-, sondern auch im Jahresrhythmus verändert.
Als ich die Bilder für die erste Dorfschreiberin-Kolumne machte, waren die Blätter an den Bäumen noch frisch, hellgrün und fast durchsichtig. Heute biegen sich die Äste unter ihrem Gewicht, das Laub ist satt grün und man sieht kaum noch durch. Im Schatten eines Baumes zu sitzen ist, gerade bei heissen Temperaturen wie wir sie diesen Sommer erlebten, angenehm. Bald werden sich die Aussenräume wieder sichtbar und spürbar verändern. Das Laub wird sich verfärben, es wird herunterfallen und das Licht wieder durchlassen, wenn die Tage kürzer werden. Wenn der Aussenraum ein Zimmer wäre, wäre es wie wenn die Wände neu gestrichen und die Vorhänge ganz geöffnet würden. Im Sommer sind wir froh über den Schatten, in der dünkleren Jahreszeit schätzen wir das zusätzliche Licht.
Spuren von Geschichten
Ich nehme an, dass es vielen Menschen so geht wie mir, wenn ein Gebäude abgebrochen wurde: ich weiss schon bald nicht mehr, wie es dort vorher aussah, was für Häuser an diesem Ort standen. Kürzlich sah ich mir die Bernstrasse Ost und West in Google Street View an. Die Aufnahmen stammen vom November 2014. In knapp drei Jahren hat sich das Gesicht von Suhr zwischen Gasthof Kreuz und Möbel Pfister grundlegend verändert. Es hat in kurzer Zeit eine starke bauliche Verdichtung stattgefunden.
Die einen Häuser müssen weichen, neue, grössere Gebäude oder ganze Überbauungen enstehen an ihrer Stelle, das gehört zur Entwicklung eines Ortes. Heute vollzieht sich diese Entwicklung in einem noch nie dagewesenen Tempo.
Als jene Häuser, die heute verschwinden gebaut wurden, war es einigermassen klar, welche Materialien und Bauweisen zur Verfügung standen. Heute ist dies für die Planenden und Bauenden weit weniger eindeutig. Es steht eine Vielzahl von Materialien, Konstruktionen und Farben zur Verfügung, und die Anforderungen, die an die Gebäudehülle gestellt werden sind vielfältig, ja teilweise unübersichtlich. Es gilt, in diesem riesigen Angebot Kriterien zu finden, nach denen die Bauten, die den Ort heute und in der Zukunft prägen, geplant und gestaltet werden sollen. Wie entscheide ich, wenn so vieles erhältlich und machbar ist?
Die meisten Häuser, die in den letzten Jahren verschwunden sind haben ihren Ort geprägt, mit ihrer Stellung, ihrem Ausdruck, ihrem Material, ihrem Alter.
Die einen Materialien werden im Alter schöner, andere wirken nach einigen Jahren eher schäbig. Die einen Materialien können in gewissen Zyklen aufgefrischt, geflickt oder erneuert werden, andere müssen dem Anspruch der Dauerhaftigkeit ohne Pflegeaufwand genügen.
Ich habe mich nach Bauten umgeschaut, die bald weichen werden, und nach solchen die bald fertig sind.
Die Spuren auf der Fassade im ersten Bild zeugen von einer bewegten Vergangenheit. Der Verputz weist schadhafte Stellen auf. Er müsste wieder mal erneuert werden, was bei der Grundkonstruktion, vielleicht eine Backstein- oder Betonmauer, auch kein Problem wäre. Mit ihren ganzen, sichtbaren Spuren erzählt diese Fassade eine Geschichte.
Das zweite Bild zeigt ebenfalls einen Massivbau. Allerdings besteht die zweitäusserste Schicht aus Wärmedämmplatten, einem leichten Material. Die sichtbare, äusserste Schicht wird auf diese Platten geklebt. Fertig verfugt entsteht der Eindruck einer aus Klinkern gemauerten Fassade.
Bei traditionellen Bauweisen wissen wir, wie die Materialien gepflegt werden müssen, und wie sie altern. Bei den neuen Konstruktionen wird sich in den kommenden Jahren zeigen, wie sie sich in Wind und Wetter entwickeln, und welche Geschichten ihre Spuren erzählen.
Suhr besteht, wie jeder andere Ort auch, aus Anlagen und Bauten aus den verschiedensten Epochen. Das ganze Gefüge verändert sich laufend, die Einen gehen, andere kommen dazu. Eine sorgfältige Wahl aus der Fülle von Materialien und Konstruktionen kann dazu beitragen, dass der Ort bei aller Verschiedenheit und Veränderung zusammenhängend und unverwechselbar bleibt.
Doppelbilder
Wenn ich dem Stadtbach entlang gehe und ins Wasser schaue, sehe ich meistens zuerst, was sich unter der Wasseroberfläche befindet: Boden, Steine, Pflanzen, Fische. Manchmal konzentriere ich mich darauf zu sehen, was sich in der Oberfläche spiegelt. Plötzlich erscheinen dann, wenn das Wasser ruhig ist, an der genau gleichen Stelle Bäume, Himmel und Häuser. Um diese Spiegelung wahrnehmen zu können, muss ich den Blick bewusst umstellen.
An den Fenstern in der Fassade eines Hauses können ähnliche Beobachtungen angestellt werden. Je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen zeigt das Fenster, was dahinter liegt, oder spiegelt es was davor liegt. Ab und zu, zum Beispiel in der Morgen- oder Abenddämmerung, kann beides miteinander sichtbar werden, wie manchmal im Wasser der Himmel und die Fische.
Ich finde es spannend, einmal mit diesem anderen Blick durch das Dorf zu gehen und dabei festzustellen, dass einem die Fenster oft ermöglichen, zwei Orte gleichzeitig zu sehen.
Das erste Bild zeigt solche Überlagerungen im Schaufenster des Blumenladens. Die Blumen hinter der Fensterscheibe zeigen die Tiefe des Schaufensters. Gleichzeitig ist das gegenüberliegende Gemeindehaus sichtbar. Die Bäume bilden ein schöne Ergänzung zur Fülle der Blumen und Pflanzen, stehen aber auf der anderen Seite der Tramstrasse.
Das zweite Bild zeigt eine reine Spiegelung. Da die Fenster keine Rahmen und Sprossen haben und bündig sind mit der Betonfassade, wirken sie fast wie aufgeklebte Spiegel. Aus dieser Perpsektive ist kaum erkennbar, wie dick die Betonmauer ist, die Fassade wirkt als dünne Schale.
Mit den Aussenwänden eines Gebäudes wird der Innenraum vom Aussenraum abgetrennt. Die Fenster stellen die Verbindung zwischen Innen und Aussen wieder her. Sie bilden den Übergang zwischen eng und weit, zwischen warm und kalt, trocken und nass, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum.
Dienten diese Fassadenöffnungen ursprünglich nur dem Lichteinfall und der Luftzufuhr, so sind im Laufe der Zeit weitere Eigenschaften und Funktionen dazu gekommen. Hinausschauen, hineinschauen, zur Schau stellen oder repräsentieren sind nur einige davon. Das Fenster, dieser Übergang zwischen Innen und Aussen, kann auf unendlich viele Arten gestaltet werden. Das kleine Guckloch, das künstlerisch gestaltete Kirchenfenster oder die Spiegelglasfassade, es gibt kaum ein Element in der Architektur, das in so vielen verschiedenen Formen vorkommt wie das Fenster.
Im Zusammenhang mit dem Artikel „Suhr am Wasser“ wurde mir ein Foto zugestellt, auf dem eine kleine Pfütze zu sehen ist, in der sich ein Baukran spiegelt. In diesem einen Bild werden verschiedene Ebenen sichtbar: der konkrete Boden, die Wasserfläche, und der Raum darüber.
Wenn einige von Ihnen Lust hätten, mit dem umgestellten Blick das Dorf zu erforschen, auf der Suche nach Bildern, die über Spiegelungen mehrere Räume und Ebenen gleichzeitig zeigen, könnte eine schöne Sammlung entstehen.
Das Haus und die Tür
Es gibt einen Ort im Dorf, der mich immer etwas irritiert, wenn ich der Tramstrasse entlang gehe oder fahre. Es ist die Fassade des alten Schulhauses.
Auf einer Postkarte von 1910 zeigt sich das Schulhaus mit einer schlichten, symmetrischen Fassade. Der Eingang liegt in der Mitte, genau dort, wo man ihn aufgrund der Fassadengestaltung erwartet. Sechs Stufen führen von drei Seiten zur Türe. Das Schulhaus zeigt seine Hauptfassade zur Strasse. Dort ist der öffentliche Raum, von dort kommen die Menschen, über die Stufen, durch das Portal ins Haus. Im Laufe der Zeit hat sich vieles verändert: die Raumbedürfnisse der Schule und der Gemeindeverwaltung, die Verkehrsbelastung der Tramstrasse. Die Eingänge der beiden Gebäude wurden auf die Rückseite verlegt, in einem Zwischenbau zusammengefasst und den neuen Bedürfnissen angepasst. An der Tramstrasse sind die Kennzeichen der alten Türe noch da. Darüber steht immer noch „Schulhaus“ geschrieben. Im Portal befindet sich aber heute ein Fenster, die Stufen sind überwachsen und nicht mehr begehbar. Die Fassade hat ihre Essenz, ihre Mitte verloren.
Wie das alte Schulhaus steht heute auch das neueste, das Vinci-Schulhaus an der Tramstrasse. Seine Fassaden sind regelmässig gegliedert und allseitig gleich gestaltet, seine einladende Geste liegt im Innern. Die Fassade zur Tramstrasse ist auch von der mittleren Dorfstrasse her gut sichtbar. Auf dieser Seite befindet sich kein Eingang. Bei diesem Bau, der sich stark nach innen richtet, ist der Eingang zurückhaltend gestaltet und nicht selbstverständlich auffindbar.
Der Eingang als Geste, die einlädt und empfängt, und wo der Übergang von aussen nach innen stufenweise erfahren werden kann, scheint nicht mehr den gleichen Stellenwert zu haben wie früher. Ladentüren öffnen automatisch, wenn wir kommen, warme Luftschleier machen es sogar möglich, bei kalten Temperaturen die Türen ständig offen zu lassen, ein Haus kann ohne Berührung, Verlangsamung und Anstrengung betreten werden.
Klar erkennbare Eingänge scheinen mir für das Wohlbefinden in Stadt, Dorf und Quartier aber noch genau so wichtig wie früher. Einladende Eingänge können dazu beitragen, dass wir uns zurechtfinden und orientieren können.
Ich mag es, sich begrüssen und verabschieden zu können in diesem geschützten Übergangsraum, nicht ganz drinnen und nicht ganz draussen, nicht ganz öffentlich und nicht ganz privat, nicht ganz offen, nicht ganz zu.
Nicht ganz öffentlich, nicht ganz privat.
Mit diesen Worten endete die letzte Kolumne. Sie handelte von der Auffindbarkeit von Eingängen, von ihrer Bedeutung für die Fassade eines Hauses und von ihrer Wirkung im öffentlichen Raum. Die Türe und die Schwelle bilden die Grenze zwischen aussen und innen, kalt und warm, ungeschützt und geschützt. Der Übergangsraum zwischen öffentlich und privat ist aber, je nach Platz und Gestaltung, viel grösser. Die Elemente dieser Zone, die vom öffentlichen Gehweg bis zum Wohnraum reicht, habe ich mir genauer angeschaut.
Die Bilder zeigen Eingänge von Mehrfamilienhäusern, einmal ins Haus, einmal in eine Wohnung. Wir alle gehen hier mehrmals täglich ein und aus, zu jeder Tageszeit, bei jedem Wetter.
Das erste Bild zeigt einen unauffällig gelegenen Eingang in ein Haus mit vier Wohnungen. Wir sehen verschiedene Elemente, die es am Übergang zwischen innen und aussen braucht.
Ein Vordach, unter dem man den Schlüssel suchen, die Post aus dem Briefkasten nehmen oder den Schirm aufspannen kann.
Ein Licht, damit man das Schlüsselloch auch findet.
Ein Belagswechsel im Schwellenbereich, der den Übergang betont. Erhöhte Schwellen stellen Hindernisse dar, die der Barrierenfreiheit zuwiderlaufen. Dies heisst aber nicht, dass die Schwelle keine Bedeutung mehr hat. Mit einem Materialwechsel kann die Schwelle auch ohne Stufe betont werden.
Ein Türgriff, der gut in der Hand liegt, gefertigt aus einem Material, das sich wärmer anfühlt als die Metallstange. Türgriffe gehören zu den Teilen eines Hauses, die wir nicht nur mit den Augen oder mit den Ohren wahrnehmen, sondern auch mit den Händen.
Ein Glas, nicht volltransparent, aber lichtdurchlässig. Es ist sichtbar, ob es auf der anderen Seite Licht hat, und ob sich etwas bewegt. Diese Sichtbarkeit ist von beiden Seiten gleich, und nicht, wie beim Türspion, nur einseitig „ich sehe dich, aber du mich nicht“.
Im Wohnungsbau bildet der ganze Erschliessungsraum, sei es Treppenhaus, Gang oder Flur, den Übergangsraum zwischen öffentlich und privat. Das zweite Bild zeigt einen Wohnungseingang auf der Étage. Es gibt zwar den Türspion, aber auch ein nicht-transparentes Glas neben der Türe. Genügend Platz vor der Türe, und eine kleine Bank bieten die Möglichkeit, den Eingangsbereich zu gestalten und somit von den andern, gleichen Eingängen zu unterscheiden. Diese Dinge sind flexibel, und wechseln mit den BewohnerInnen. Das Haus gibt den Rahmen und den Raum.
Der Ort in der Mitte
Wenn ich in das neue Schulhaus „Vinci“ eintrete, gelange ich ohne Umwege in die Mitte des Hauses. Der zentrale Raum mit den geschwungenen Treppen reicht bis unter das lichtdurchlässige Dach. Jeder Raum, sei es ein Klassenzimmer, die Bibliothek oder eine Toilette, wird über diesen Raum erschlossen. Jede und jeder durchwandert die Halle beim Kommen, und auch wieder beim Gehen. Es ist ein Ort der Bewegung und der Begegnung von Menschen, klein und gross. Jede Tür, die man von diesem Raum aus durchquert, führt in einen Raum, der spezifischer, ruhiger, und gewissermassen privater ist.
Wenn ich in das alte, renovierte Haus an der Bachstrasse 9 eintrete, betrete ich einen Raum, der eine vergleichbare Wirkung hat. Beim Umbau wurde das Haus um die ausgebaute Scheune Richtung Norden erweitert. Der Eingang befindet sich heute dort, wo früher das Tenn mit seinem grossen, alten Holztor war. Dieser Raum bildet die Mitte des neu definierten Hauses. Er macht die ganze Höhe der Scheune sicht- und spürbar, und ist Treffpunkt und Aufenthaltsraum aller Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses, ihrer Nachbarschaft und ihrer Freunde. Von hier aus führen verschiedene Wege in die privateren Wohn-, Schlaf- und Sanitärbereiche.
Die Mitte ist ein Ort dazwischen. Sie ermöglicht Beziehungen zwischen verschiedenen Räumen und ihren Nutzerinnen und Nutzern.
Im Fall des Vinci-Schulhauses liegt dieser Ort auch tatsächlich exakt in der Mitte des Gebäudes. Bei der Bachstrasse 9 hat sich mit der Erweiterung des Wohnhauses ihre Mitte verschoben.
In Suhr können wir zurzeit miterleben, wie mit der Realisierung und der allmählichen Belebung der neuen Überbauungen beim Bahnhof gleichsam eine Dichteverlagerung stattfindet. Ein zusätzliches Angebot an Wohnraum, Läden, Restaurants und Dienstleistungen bringt mehr Menschen in dieses Gebiet. Für mich, die ich seit bald 20 Jahren in Suhr lebe, ist, oder war das Zentrum von Suhr an der Mittleren Dorfstrasse, die die Mitte sogar im Namen trägt. Wenn nun die Mitte des Dorfes, so wie die Mitte des Hauses der Ort ist, der Beziehungen zwischen Räumen und Menschen herstellt, wo ist sie denn heute?
In meiner Fantasie erstreckt sich das Zentrum von Suhr von der mittleren Dorfstrasse bis zum Bahnhof. Herzstück ist die Tramstrasse. Auf diesen gut 400 m hat der Fuss- und Veloverkehr Priorität, und ist die Beziehung zwischen den beiden Strassenseiten wichtiger als die Verbindung des Wynentals mit der Stadt Aarau.
Räume am Rand
Wo der Galeggenweg in die Obere Dorfstrasse mündet, herrscht freie Sicht auf den Chilehübel. Das Ensemble mit der reformierten Kirche oben und den markanten Bauten unten wird gefasst von der Mauer, die das Bett des Stadtbachs führt. Die grüne Fläche zwischen dem Stadtbach und der Strasse wurde im Laufe der Zeit wohl immer kleiner, aber es gibt sie noch. Und es ist wichtig, dass es diesen Streifen gibt. Er deutet an, dass der Galeggenweg eine kleinere Strasse ist, die in die Landschaft hinaus führt, ins Grüne.
Wenn ich den Blick dann nicht mehr auf den Hügel richte, sondern auf diesen kleinen Grasstreifen im Vordergrund, erstaunt es mich, was sich dort in den letzten Jahren alles angesammelt hat. War es vor drei Jahren der Pfosten mit den Schildern und ein Robidog, so steht dort heute auch noch eine Stele des Audiopfads zum Stadtbach und eine Sitzbank aus einem Steinkorb mit Kunststoffbrettern darauf. Zusätzlich liegen grosse Steine am Boden, und wurde um die Bank herum die Wiese durch einen festeren Belag ersetzt, der dann auch das Ausschneiden des Stellriemens erforderte. Der Robidog fand auf der anderen Seite, in einem weiteren Randbereich, wo bereits eine Trafostation steht, Platz. Alles in Allem ist ein bisschen viel los auf diesen wenigen Quadratmeter Land.
An Rändern bleiben oft Räume übrig, die etwas undefiniert sind. Durch Strassen abgeschnittene Restflächen, die mit dem Kulturland nicht mehr verbunden sind. Gleichzeitig bringt unsere Lebens- und Siedlungsweise eine Vielzahl an Objekten mit sich, die irgendwo im öffentlichen Raum Platz finden müssen. Da scheinen sich solche Inseln anzubieten. Im Grossen sehen wir an Rändern von Städten und Dörfern, dass sich oft Nutzungen ansammeln, die in den Zentren stören oder unpraktisch sind. Im Kleinen kann es zu Übernutzungen kommen, wie es das oben gezeigte Beispiel zeigt. Es ist einfacher, irgendwo etwas hinzustellen, wenn schon etwas da ist.
Ich finde es wichtig, den Blick für die Gestaltung dieser Orte im öffentlichen Raum zu schärfen. Gerade dort, wo man täglich vorbeigeht, fallen diese Dinge nicht mehr so auf.
Im zweiten Bild ist auch ein Rand zu sehen. Gleich zwei solche Orte gibt es an der Bachstrasse. Im Gegensatz zum ersten Beispiel heitert mich die Situation im zweiten Bild immer auf. Die Wiese ist gross, der Strassenrand klar. Der einzelne Hydrant animiert junge Velofahrer, diesen kleinen Schlenker darum herum zu machen. Verspieltes Gewohnheitsrecht, nicht gestaltet und nicht dauerhaft. Wenn der kleine Umweg nicht mehr benutzt wird, verschwindet er von alleine wieder.
Die Tramstrasse
In der Stadt, in der ich geboren wurde gab es ein kleines, rechteckiges Wiesenstück. Meine Eltern nannten es das „Alte abgebrochene Spital“. Als Kind hat mich beschäftigt, wie dieses Spital wohl ausgesehen hatte, und wie klein es gewesen sein musste, so viel kleiner als Spitalbauten die ich kannte.
Dieses „Alte abgebrochene Spital“ kommt mir in den Sinn, wenn ich mich mit dem aktuellen Umbau der Tramstrasse beschäftige.
Seit über sieben Jahren fährt hier kein Tram mehr. Der Rost auf den Schienen zeugt davon, dass diese schon länger nicht mehr von den Rädern schwerer Fahrzeuge poliert wurden. Stattdessen wurden sie aufgefüllt, damit keine unnötige Gefahr für Zweiräder entsteht. Diesen Zustand sehen wir rechts im oberen Bild. Bevor die Schienen nun definitiv ausgebaut werden, wird dieses Füllmaterial zuerst entfernt. Und so sehen wir links im Bild Tramschienen, wie sie bis 2010 in Betrieb waren. Ich erinnere mich an das Tram, das mir manchmal unverhofft auf der eigenen Fahrbahn entgegenkam. Mit dem Velo blieb dann die Flucht aufs Trottoir, mit dem Auto die auf die Gegenfahrbahn, und dann hoffen, dass dort nur Ortskundige unterwegs sind die wissen, dass sie hinter dem Tram bleiben sollen.
Das ist meine Erinnerung, und ich bin seit 20 Jahren hier. Wer viel länger hier ist, hat das Tram anders erlebt, und vielleicht kennt der eine oder die andere noch Geschichten aus der Zeit, als ausser dem Tram vor allem Menschen zu Fuss unterwegs waren, als das Tram etwas neues, besonderes, fortschrittliches war. So neu, dass sogar die Strasse nach ihm benannt wurde.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, gibt es keine Schienen mehr auf der Tramstrasse. Die vielen Menschen, die in den nächsten Jahren neu nach Suhr ziehen, werden sich vielleicht fragen warum die Strasse so heisst. Vielleicht nehmen sie den Namen einfach als gegeben an. Vielleicht stellen sie Nachforschungen an und erfahren etwas über die historische Entwicklung der Gemeinde, oder machen sich Gedanken zur Entwicklung unserer Mobilität. Vielleicht wird auch die Fantasie beflügelt und sie malen sich ein Dorf mit einer Strassenbahn aus.
Die Bedürfnisse der Menschen ändern sich, Prioritäten verlagern sich, Orte wie Suhr sind in ständigem Wandel und rüsten sich für die Zukunft. Die Namen von Strassen, Plätzen und weiteren Orten können ein Fenster öffnen in eine Zeit, in der diese geprägt wurden. So gesehen, könnte der Suhrepark auch „Textildruckerei“ heissen.